Versuch über Hebe

I
Hebe war im Altertum die Göttin der jugendlichen Schönheit. Sie war eine – ausnahmsweise eheliche – Tochter des Göttervaters Zeus und als ihr Gemahl auf dem Olymp war der Halbgott Herakles, der Super-Superman der Antike, gerade gut genug für sie.
Wie alt dürfen wir uns die Göttin vorstellen? Auf den Grabsteinen des römischen Imperiums liegt das häufigste Sterbealter um die Dreißig.

1832 veröffentlichte Honoré de Balzac auf seinem großen Streifzug durch die französische Gesellschaft seiner Zeit den Novellenroman La femme de trente ans ‘Die Frau von dreißig Jahren’. Mit dreißig hatte eine Frau damals ihre besten Jahre schon hinter sich, und Balzac zeichnet ein eindrucksvolles Porträt der feinfühligen Julie d’Aiglemont als alternde Frau.
Der Volksmund setzte die kritische Grenze sogar noch früher an: coiffer Sainte Catherine bedeutete ‘die 25 erreichen und noch nicht unter der Haube sein’. (Die heilige Katharina war auch Patronin der Putz- und Hutmacherinnen. Für ihre Statue eine Haube mit passender Haartracht zu kreieren, konnte ihr Frauenherz rühren und mit ihrer Hilfe auf den letzten Drücker noch einen Ehemann herbeizaubern.)
In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts kursierte in Männerkreisen folgende Scherzfrage: Was hat es zu bedeuten, wenn eine Frau mit 40 Lila trägt? – Es ist für sie der letzte Schrei. Der Hintersinn bezog sich da auf einen stummen Schrei nach Bestätigung ihrer weiblichen Anziehungskraft, immer noch am sichersten festzumachen an einem Heiratsantrag.

Und heute, im noch jungen 21. Jahrhundert – bei welcher Jahresmarke liegt jetzt der Deckel für die alte Schachtel bereit? Ottos drei hübsche Töchter sind alle so um die Vierzig und nicht nur die Freude und der Stolz ihres Papas, sondern sehen auch bei distanzierter Betrachtung irgendwie alterslos jung aus, so als wäre ihre biologische Sanduhr von den ständigen Streiks bei der Lufthansa mit stillgelegt.

Liegt dann die Alters-Grenze der Frau heute bei 50, 60 oder gar 70 Jahren?
Auch das nicht, sondern irgendwo und nirgendwo. Jede markante Linie in den Gesichtszügen wird von den einen mit Würde und Stolz getragen, macht sie doch ihre Trägerin zu einem unwiederholbaren Kunstwerk des Lebens, das sie als geschmackssichere Frau aufs Anziehendste auszugestalten und aufzuhübschen weiß. Die effektvollste Naturkosmetik kostet ohnehin keinen Cent und kann wahre Wunder wirken: Es ist häufiges, je nach Gusto der Trägerin herzhaftes bis feines oder süßes Lächeln (verschönert auch den Herrn). Und selbst den von vielen Damen so gefürchteten “mittleren Ring” sollten sie als ihr eigen Fleisch und Blut mit lächelnder Nachsicht annehmen. Noch immer werden sich Männer nach ihnen umdrehen, wenn auch eher George Clooney als Lothar Matthäus, was auch kein Unglück ist.
Andere Frauen aber bekämpfen ihre Lebenslinien im Gesicht und am Körper mit allen von der Haager Landkriegsordnung erlaubten Mitteln. Da wird gelifted, gebotoxt, gebleacht, abgesaugt, aufgespritzt, die Büste zu einem Silicon Valley umgebaut, bis die Dame, wie einst die Gattin des Bildhauers Pygmalion, mehr als Geschöpf ihrer Ärzte denn als das ihrer Eltern gelten muss. Immerhin würde selbst Agent 007 beim Pokerspiel an der Starre ihres Gesichtsausdrucks verzweifeln. Treiben es aber die Jugendbewahrer zu lange, erinnert ihr Opfer zuletzt an eine Hofdame aus dem Grab Thutmosis II. Wenn ewige Jugend so aussieht, dann wendet sich jetzt der Gast mit Grausen.
Das finale Stadium eines natürlichen oder künstlich geschaffenen Äußeren können Sie eindrucksvoll in den Catacombe des Kapuzinerklosters von Palermo besichtigen – Kinder besser draußen lassen! Dann ist es für alles zu spät. Aber solange wir noch bei Sinnen und bei Kräften sind, solange kann auch die ewig junge Göttin Hebe in uns wohnen.

II
Klingt ja gut, aber wie soll das gehen?
Vielleicht hören wir zuerst dem jungen Mädchen zu, das jedes Jahr mit seinem Prolog den Christkindlesmarkt eröffnet:
“Ihr Herrn und Fraun, die ihr einst Kinder ward, seid es heut wieder nach ihrer Art!”
Taugen die zwei Verse nur für ein paar rührselige Momente, oder etwa für das ganze Jahr?
Bevor wir dieser Frage nachgehen, sollten wir erst einen Blick auf den Gegenpol der Jugend werfen, nämlich das Altern und das Alter.

Unser kalendarisches Alter, das vom Tag der Geburt an konstant zunimmt, können wir überhaupt nicht beeinflussen; deswegen behandeln es viele Damen als Teil ihrer Intimsphäre, und einige besonders Mutige oder Prominente fummeln sogar an ihrem Geburtsdatum herum. Zum Beispiel aus einer Drei eine Acht zu machen geht kinderleicht und bringt immerhin fünf Jährchen.

Das soziale Alter, wenn es als Renteneintrittsalter definiert ist, wird von den Politikern nach Bedarf hin- und hergeschoben. Für sehr viele Menschen hängt aber das soziale Alter hauptsächlich von ihrer Wahrnehmung durch die Mitmenschen ab, als ‘jung’, ‘jugendlich’, ‘ältlich’ und so weiter. Viel lieber möchte man mit 60-70 Jahren unter die alten Jungen als unter die jungen Alten gezählt werden, gern unter die best ager, ungern unter die silver ager.
Oder eine Frau will – im Fernsehfilm (Arte, 4.12.15) – mit 60 noch Mutter werden, als Nachweis ihrer fortbestehenden Jugend. Vordergründig geht es in dem Film um körperliche Erscheinungen, um Toupet, Piercing, Koitusfrequenz, Babybauch. Dahinter steckt aber nichts anderes als der Drang nach Selbstoptimierung und Akzeptanz als ‘immer noch jung’ durch die Umwelt. Zur Schwangerschaft kommt es bei Miss Sixty dann doch nicht mehr, was sicher die Einstellungen des Fernsehpublikums besser bedient und dem allfälligen Wunschkind die Rolle des Meerschweinchens erspart, das die Achtjährige un-unbedingt haben muss.

Eine problematische Facette des sozialen Alters sind auch die Klischees, die die Jüngeren mit sich herumtragen und verzapfen (wenn sie selbst einmal Senioren sind, reden sie kaum mehr davon). Am 7.11.15 stand in der Süddeutschen Zeitung auf Seite 77 ein Interview mit dem Popkünstler Chris Norman. Er äußert dort seine Sicht der Dinge: “Die meisten Menschen verbringen doch ihre Zeit damit, auf irgendetwas zu warten. Egal, ob junge Leute oder alte, die warten dann darauf zu sterben.”
Da sehen wir sie vor uns, all die Gruftis und Kompostis, die nur darauf warten, an ihren Bestimmungsort verräumt zu werden.
Den Herrn Norman betrifft das nicht, er ist ja erst 65. Deutsche Popkünstler altern ohnedies unmerklich langsam. Frühestens mit 80 werden sie mitten im Leben abberufen, andernfalls schaffen sie auch mal die 108. Ad multos annos, Mr. Norman!
Das gängigste Klischee ist natürlich dieses: Alte sind klapprig, tattrig, senil oder gleich dement. Die Wahrheit sieht anders aus. Am 29.11.15 konnte man von der ARD erfahren, dass in Deutschland rund 17000 Menschen leben, die die Hundert überschritten haben. Drei von ihnen lernte man im Interview kennen: Sie sind zwar nie als Hundertjährige aus dem Fenster gestiegen und verschwunden, aber dafür gestalten sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten ihren Alltag aktiv, sie pflegen ihr Beziehungsnetz und zwei von ihnen leben noch ganz in ihrer Gegenwart.

Unser biologisches Alter haben wir in erheblichem Maße selbst in der Hand. Wie die Forschung herausgefunden hat, hängt nur der kleinere Teil (zwischen 20 und 30 Prozent) der körperlichen Alterungsprozesse von den Genen ab, und der weitaus größere Teil von Umwelt und Lebensweise; so kann die durchtrainierte Siebzigjährige fitter sein als der fette Dreißigjährige. Es stimmt also: Turne bis zur Urne!
Aber wie viele mögen es wohl sein, die erst in reiferen Jahren anfangen, sich körperlich und mental fit zu halten? Meistens gilt ja doch das Sprichwort “Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr”, es sei denn als Koronarpatient nach einem Warnschuss vom Herzen.

Die Forscherteams untersuchen das muskuläre, das hormonale, das kognitive Altern, die Zellalterung – aber wer beugt sich über das psychische Altern?
Es ist doch immer dasselbe Kreuz mit den Wissenschaftlern: Was sie nicht messen können, darum machen sie einen Bogen. Leistung jeder Art kann man prima testen und vergleichen, Lust auf Neues und Spaß am Leben und Lachen eher nicht. Der Serotoninspiegel geht auch zu bestimmen, aber was sagt das Glückshormon im Blut wirklich aus über den Gefühlshaushalt, über die positiven Emotionen, die der eine reichlich hat und der andere spärlich? Aber das seelische Altern existiert, mit oder ohne wissenschaftliche Zuwendung, und wer wüsste nicht gern, was man dagegen tun kann?
Jedenfalls ist auch das ein schleichender Prozess. Man wird sich entweder frühzeitig gegen ihn zur Wehr setzen, oder man wird es gar nicht tun, ganz ähnlich wie beim biologischen Altern. Aber die beiden Prozesse müssen nicht parallel und im gleichen Tempo vor sich gehen. Manchmal laufen mir beim Wandern in Frankens Hain und Flur graubärtige, drahtige Gestalten in hochwertigen Outdoorjacken über den Weg, richtige Vorzeige-Best-Ager. Wenn sie nur nicht diesen eigenartig verkniffenen, teilnahmslosen Gesichtsausdruck hätten. Äußerlich in bestem Erhaltungszustand, zweifellos, aber wie sieht es drinnen aus?
Otto lebt seit Jahren in einer großen Wohnanlage für Senioren. Viele von ihnen führen ihr Leben noch selbstständig und aktiv, andere müssen  mit Einschränkungen zurechtkommen, wieder andere sind auf Hilfe angewiesen. Aber in allen drei Gruppen begegnen wir den gleichen Abstufungen von Lebenswillen und Lebensmut, von der wachen Anteilnahme über verschiedene Grade der seelischen und geistigen Einengung, dann Erstarrung, bis hin zum Verstummen und dem Blick ins Leere.
Das erst ist das wahre Altsein, vor dem wir uns mit Recht fürchten. Neben der Erkrankung ist das seelische Altwerden (das oft mit Vereinsamung und Depression einhergeht) die größte Bedrohung für die Lebensqualität des alternden Menschen.
Es kommt nicht über uns als unabänderliches Schicksal, aber es wird früher oder später zu uns kommen, wenn wir ihm keine innere Jugend entgegensetzen.
Auch für das Greisenalter hatten die Griechen eine Gottheit parat. Sie hieß einfach Geras ‘Alter’, und als Sohn von Nyx und Erebos ‘Nacht’ und ‘Dunkelheit’ kann sie kein Guter gewesen sein. Wir wollen dem finsteren Gesellen gleich die kalte Schulter zeigen.

Altwerden ist nichts für Feiglinge, hat Dieter Hildebrandt geschrieben, und ieberhabbds ist das Leben kein Fleischsalat, wie die Herren Heißmann und Rassau treffend bemerken.
Man muss als Achtzigjähriger keinen Stadtmarathon laufen und keine mollige Zufallsbegegnung zu sich in die Wohnung holen, sowas funktioniert nur im Kino bei Hallervordens. Dass die Alten den Jungen hinterhertorkeln, das kann es doch nicht sein, no way. Diese Art von Marathon gegen die Zeit kann ein Mensch nur verlieren, und unterwegs bleibt vielleicht noch seine Würde als ältere Person auf der Strecke liegen.

III
Also lassen wir die Filme über Alt-Junge und Jung-Alte und schauen jetzt auf die wirklich Jungen, nämlich die Kinder. Wer wie Otto das Glück hatte und hat,  eigene Kinder, dann Enkelkinder in seiner Nähe aufwachsen zu sehen, kann sich alles Wichtige von ihnen abgucken und auf seine eigenen Möglichkeiten und persönlichen Verhältnisse übertragen.
Sind denn die Kinder wirklich die besten Vorbilder und Lehrmeister im Jungbleiben und Wieder-Jung-Werden? Ja wer denn sonst? Meister Yoda vielleicht, oder der weißhaarige Gandalf, oder all die überreifen Schönheiten im Abendprogramm?
Kinder sind neugierig auf die Welt und das Leben, voller Fantasie und begeisterungsfähig, von Natur aus fröhlich und überhaupt immer nah bei ihren Gefühlen: Das ist es, so geht Jungsein.
Aber warum verlieren so viele Menschen diese Eigenschaften im Lauf der Jahre und Jahrzehnte? Warum sagen die Leute von einer alten Dame: “Sie kann sich noch freuen wie ein Kind” und finden das doch irgendwie unnormal?
Kinder entfalten ihre Lebensfreude ganz spontan, ohne Genussmittel und Konsum.
“Schön ist es, auf der Welt zu sein / Sagt die Biene zu dem Stachelschwein”: Dieses Liedchen, das vor einem halben Jahrhundert Roy Black und die kleine Anita  in deutsche Wohnzimmer flöteten, drückt das sehr gut aus. Und ich kenne einige wenige nach Jahren alte Menschen, die sich solch eine kindlich junge Lebenseinstellung nicht zufällig bewahrt, sondern zu einer ganz bewussten Haltung gemacht und ihre Umgebung damit sehr beeindruckt haben. Sie sind ja auch offen für andere Menschen und deswegen selten vereinsamt.

Ein Kind und erst recht ein Erwachsener braucht deswegen kein Pumuckl und keine Ulknudel zu sein; es gibt auch unter Kindern Bedächtige und Ernsthafte. Und statt jugendlichem Leichtsinn und Übermut, die den meisten von uns die Lebensschicksale mehr oder weniger ausgetrieben haben, können wir mit den Jahren einen Blick für all das Komische im Leben entwickeln und darüber lächeln oder ein Witzchen machen.

Kinder und Senioren haben auch gemeinsam, dass sie physisch durchaus begrenzte Möglichkeiten haben im Vergleich zu den jungen Erwachsenen. Natürlich bleibt der Unterschied bestehen, dass der Aktionsradius der Kinder stetig zunimmt, der der Älteren langsam abnimmt. Dafür dürfen wir Senioren immer noch manches, was den Kindern vorläufig verwehrt ist, zum Beispiel abends ausgehen oder eine Dame / einen Herrn bei uns empfangen.
Jedenfalls ist Spaß an der eigenen Leistung, ob mit den Beinen oder dem Köpfchen, eine feine Sache, in jedem Alter. Und mit Kindern Elfmeterschießen oder Memoryturniere veranstalten, das ist der ideale Leistungsvergleich für Ältere, mit Scherzen und mit Lachen. “Pretty is as pretty does” applaudiert da der Amerikaner.

Hier bringt sich eine dritte Gottheit des Altertums ins Spiel, diesmal eine römische. Sie hieß einfach Juventas ‘Jugend’, und verkörperte nicht wie die griechische Hebe die Schönheit, sondern die Energie und den Tatendrang der Jugend. Das ist übrigens eine seelische Eigenschaft, keine biologische. Also kann man sie sich bewahren, unabhängig vom Geburtsdatum. Und Juventas darf neben Hebe mit auf den Hausaltar und kriegt auch ein Räucherstäbchen angezündet – eine lohnende Investition, vielleicht mehr als all die Wellness- und Fitnessprodukte der Gesundheitsindustrie, die ja nur unser Bestes will, unser Geld.
Das Jungsein, um das es hier geht, ist im Grunde ein emotionaler Antrieb, ein Lebensgefühl, das die Jungen und Junggebliebenen von früh bis spät begleitet (gelegentliche Durchhänger nach einem Flop gehören genauso dazu wie der Absacker nach einem langen Arbeitstag). Dieses Lebensgefühl kommt aus dem Bauch und dem Herzen, nicht aus dem Denken, und noch weniger aus der Apotheke.
Lebensgefühl – ist das nicht etwas, das ständig irgendwelche Marketing-Fuzzis anpreisen als käuflich zu erwerben? Aber das ist doch nichts als Blabla, wir wissen es im Grunde alle. Das wirkliche Lebensgefühl muss der fühlende Mensch mit seinem eigenen Leben auskarteln, das gibt es nicht zu kaufen und nicht geschenkt. Hebe verlangt also weder Kaufkraft noch besondere Bildung oder Intellekt von ihren Verehrern; nur dass Bildung und Intellekt den Erlebensspielraum eines Menschen erweitern.
Ob sich die Göttin der Jugend wieder zurückholen lässt, wenn wir sie irgendwann aus den Augen verloren haben? Ein Versuch, mit Ausdauer unternommen, würde sich lohnen.

Was können, was sollten wir also tun, damit sich die immer junge Göttin bei uns wohlfühlt?
Praktische Ratgeber, wie man/frau das körperliche oder mentale Altern aufhalten kann, gibt es auf dem Markt zur Genüge, sei es in Buchform oder als digitale Medien. Und wer als Dame speziell das soziale Altern fürchtet, kann sich einen Bestseller über Anmutig älter werden zulegen.

Vielleicht hält sich unsere Dame auch einfach an das Bonmot von Coco Chanel, wonach keine bezaubernde Frau älter ist als 39. Da ist nämlich was Wahres dran: Eine bezaubernde Frau muss eine jugendliche Ausstrahlung besitzen, gleich wann sie geboren ist. Nimmt man den Ausspruch hingegen wörtlich und versucht, sein Alter zu ignorieren (“Älter werde ich später: Das Geheimnis, schön und sinnlich, fit und entspannt zu sein”) oder zu retuschieren, macht frau oder man sich auf Dauer nur lächerlich – die Weltliteratur ist voll von komischen Alten.
Wie man das seelische Altwerden stoppen oder sogar umkehren kann, finden nachdenkliche Leser schon selber heraus, so wie es am besten zu ihr oder ihm passt.
Klar, nach einem halben Jahrhundert Rasten und Rosten ist es vielleicht zu spät, um wieder an seine Kinder- und Jugendzeit anzuknüpfen. Ein Umschalten per Tastendruck in den Jugendmodus, das geht sowieso nicht, denn wir Menschen sind immer noch analog gebaut und nicht digital.
Je früher wir uns daran gewöhnen, das zu pflegen, zu trainieren, an uns zu mögen, was wir als Kinder besessen haben, desto besser für uns und unsere Lebenszufriedenheit.
Und als Senioren sich nicht hinter körperlichen Einschränkungen verstecken! Gymnastik mit dem Rollator daneben oder auch im Rollstuhl, das wird heute an vielen Orten angeboten, und noch wichtiger als der Erhalt der körperlichen Beweglichkeit ist die Gruppe, mit der man zusammen übt, lacht, plaudert. Überhaupt ist alles, was Menschen unter die Leute bringt der beste Jungbrunnen für die Seele, und der – beinahe – allerbeste ist erwiesenermaßen das gemeinsame Musikmachen, Singen, Tanzen.
Oder wie wäre es mit einem ehrenamtlichen Engagement? Sie treffen dabei garantiert auf sympathische Leute.
Und nehmen Sie öfter mal Geld in die Hand, wenn Sie es ermöglichen können! Die Euroscheine, die die Jüngeren gerne mit vollen Lungen in die Welt des Konsums pusten, kleben den Älteren oft im Portemonnaie fest. Man hat ja so arg sparen müssen in seiner Jugend – bloß, dass die jetzt schon ewig weit zurückliegt. Knickern und knausern machen alt, und lassen einen alt aussehen bei den Mitmenschen.

Emotionalität ist keine Funktion von Testosteron oder Östrogen in unserem Körper, und Begeisterungsfähigkeit auch nicht. Wünsche, Hoffnungen, Sehnsüchte haben, heißt in die Zukunft hinein leben, wie es die Jungen tun, und ab und zu eine Konvention, gar ein Verbot zu übertreten, bringt auch einen Kick, der jung hält.

Und ein Letztes noch, das wir Erwachsenen den Kindern sogar voraus haben: Das spezifische Interesse am anderen Geschlecht, oder um niemand auszuschließen: an anderen Menschen wegen ihres Geschlechts. Sexualität als Grundprägung der Persönlichkeit und starke Quelle unserer Gefühle und Antriebe ist das Lebenselixier bis ins hohe Alter. Sie ist auch eines der weitesten Felder unseres Menschseins, wo Glück und Enttäuschung, wunderschöner Erfolg und schmerzlicher Verzicht beieinander liegen.
Viele der Älteren sind ja alleinstehend, seit Jahr und Tag geschieden von ihrem Partner, ihrer Partnerin durch ein Gericht oder durch den Tod. Nichts hindert sie also, ein wenig Ausschau zu halten nach einer neuen Bekanntschaft oder Freundschaft, vielleicht gar zu träumen von einer richtigen Liebe, von großem Kino.  “Geh aus, mein Herz, und suche Freud” heißt das berühmteste Kirchenlied von Paul Gerhardt. Wenn auch dieser Satz etwas anders gemeint war, wir deuten ihn einfach um, der Himmel möge uns verzeihen. Die jugendschöne Hebe würde gemeinsam mit ihrer Halbschwester Aphrodite ihre schützenden Hände über die späten Liebenden halten.
Im realen Leben mag das eher ein Traum bleiben. “Mit siebzehn hat man noch Träume” säuselte einst Peggy March: Was heißt hier “noch”? Später wohl nicht mehr?
Ein bisschen kokett die Dame, galant der Herr, das hält ganz entschieden ein Stück Jugend in beiden fest. und vielleicht PASSIERT ES ja doch noch eines Tages – und das Leben wird mit einem Mal aufregend und schön. Irgendwann muss sowieso jeder Ballonfahrer, selbst wenn er auf Wolke Sieben schwebt, wieder zurück auf die Erde.

Und dürfen wir daran erinnern, dass Verliebtheit prinzipiell mehr mit Emotionen als mit Erektionen zu tun hat – auch wenn mancher Macher oder Manager aus der Unterhaltungsbranche etwas verständnislos dreinschauen mag, weil immer nur “Sex sells” durch sein Hirn flackert.

Aber zu dem Pfadfindermotto “Allzeit bereit” gehört dann auch, als Mann nicht sommers im ewig gleichen beigen Rentnerblouson und als Frau nicht bloß in Pastellgrün oder Mausgrau, winters dann in gediegenem Schwarz herumzulaufen. Auch der Bastard von Uraltsakko geht nicht von selber kaputt! Und wer immer nur hinterm Ofen beziehungsweise vor dem Fernseher hockt, wird dabei schwerlich jemand kennenlernen, der ihm oder ihr mal tief in die Augen schaut und dazu auffällig lächelt.
Wer freilich keine Sehnsucht, keine Träume mehr in sich trägt, von dem wenden sich Hebe und Juventas resigniert ab.

Sollten wir es da nicht doch mit dem Christkind halten, und nur ein Wörtchen in seinem Reim austauschen:
“Ihr Herrn und Fraun, die ihr einst Kinder ward, seid es heut wieder nach eurer Art”, und das auf Dauer, solange ihr Herrn und Fraun am Leben teilnehmen möchtet.
Und hier noch ein Mantra zum Auswendiglernen:

Jugend, Reife, Alter lassen sich nicht einfach nach Jahren abteilen – gottlob.
Wahre Schönheit, sagt man, kommt von innen.
Wahre Jugend erst recht.
hebe

Hier wohnt Hebe:
100-jaehrige-Faschingsprinzessin
Die 100-jährige Charlotte Geppert und ihr 71-jähriger Sohn Bruno posieren als Faschings-Prinzenpaar
Foto: dpa